Der Preis des Kriegs – wer bezahlt?

  • Die Weltwirtschaft wird durch Russlands Invasion in der Ukraine belastet. Das globale Wirtschaftswachstum kam im zweiten Quartal 2022 zum Stillstand und die Indikatoren deuten nun in vielen Volkswirtschaften auf eine längere Phase gedämpften Wachstums hin.

  • Der Krieg hat die Energie- und Nahrungsmittelpreise erheblich nach oben getrieben. Dies verstärkt den Inflationsdruck in einer Zeit, in der die Lebenshaltungskosten weltweit ohnehin schon deutlich gestiegen waren.

  • Das globale Wachstum wird sich den Projektionen zufolge von 3 % 2022 auf 2¼ % 2023 verlangsamen, weit unter dem vor dem Krieg erwarteten Niveau. 2023 könnten die realen globalen Einkommen rd. 2,8 Bill. USD niedriger ausfallen als vor einem Jahr erwartet (dies entspricht Einbußen von knapp über 2 % des BIP, in KKP).

  • Das jährliche BIP-Wachstum wird sich den Projektionen zufolge 2023 drastisch verlangsamen – in den Vereinigten Staaten auf ½ % und im Euroraum auf ¼ %. In mehreren europäischen Volkswirtschaften könnte es während der Wintermonate zu einem Rückgang der Wirtschaftsleistung kommen. In China wird das Wachstum in diesem Jahr aufgrund der Lockdowns und der Schwäche des Immobilienmarktes voraussichtlich auf 3,2 % sinken. 2023 könnten Konjunkturmaßnahmen jedoch zu einer Erholung des Wachstums beitragen.

  • Die Inflation hat sich in vielen Volkswirtschaften ausgeweitet. Eine restriktivere Geldpolitik und abklingende Lieferengpässe dürften den Inflationsdruck nächstes Jahr abschwächen, gestiegene Energiepreise und höhere Arbeitskosten werden den Rückgang jedoch wahrscheinlich verlangsamen.

  • Die Gesamtinflation wird den Projektionen zufolge in den G20-Staaten von 8,2 % 2022 auf 6½ % 2023 zurückgehen und in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften der G20-Gruppe von 6,2 % in diesem Jahr auf 4 % 2023 sinken.

  • Die Projektionen sind mit erheblicher Unsicherheit behaftet. Größere Engpässe bei Brennstoffen, insbesondere Gas, könnten das Wachstum in Europa 2023 um weitere 1¼ Prozentpunkte reduzieren. Das globale Wachstum würde in diesem Fall um ½ Prozentpunkt niedriger und die europäische Inflation um mehr als 1½ Prozentpunkte höher ausfallen.

  • In den meisten großen Volkswirtschaften sind weitere Zinserhöhungen erforderlich, um die Inflationserwartungen zu verankern und sicherzustellen, dass der Inflationsdruck dauerhaft reduziert wird.

  • Um die Auswirkungen hoher Energiekosten auf Haushalte und Unternehmen abzufedern, sind fiskalische Stützungsmaßnahmen notwendig. Sie sollten jedoch zeitlich befristet sein, sich auf die am stärksten gefährdeten Gruppen konzentrieren, Anreize zur Verringerung des Energieverbrauchs aufrechterhalten und in dem Maße zurückgenommen werden, in dem der von den Energiepreisen ausgehende Druck nachlässt.

  • Bei kurzfristigen fiskalpolitischen Maßnahmen zur Sicherung des Lebensstandards gilt es, weitere anhaltende Konjunkturimpulse in einer Zeit hoher Inflation zu vermeiden und die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen zu sichern.

  • Die Regierungen müssen sicherstellen, dass die Ziele der Energieversorgungssicherheit und des Klimaschutzes miteinander in Einklang stehen. Die kurzfristige Sicherung der Energieversorgung und -erschwinglichkeit durch fiskalische Unterstützung, Diversifizierung der Bezugsquellen und einen niedrigeren Energieverbrauch sollte durch Politikmaßnahmen flankiert werden, die höhere Investitionen in saubere Technologien und Energieeffizienz fördern.

  • Die Folgen des Kriegs stellen eine bleibende Gefahr für die globale Ernährungssicherheit dar, insbesondere wenn sie mit weiteren durch den Klimawandel verursachten Extremwetterereignissen einhergehen. Um die Agrarmärkte offen zu halten, Versorgungsnotstände zu bewältigen und die Angebotsseite zu stärken, ist internationale Kooperation erforderlich.

Die Weltwirtschaft hat in diesem Jahr an Fahrt verloren. Nach der kräftigen Erholung von der Coronapandemie war vor Russlands unprovoziertem, durch nichts zu rechtfertigendem und illegalem Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Rückkehr zu einer normaleren wirtschaftlichen Entwicklung zu erwarten. Die Effekte des Kriegs und die andauernden Auswirkungen der Coronaausbrüche in einigen Teilen der Welt bremsen das Wachstum jedoch und verstärken den Aufwärtsdruck auf die Preise, vor allem für Energie und Nahrungsmittel. Das globale BIP stagnierte im zweiten Quartal 2022 und in den G20-Staaten ging die Wirtschaftsleistung zurück. Es ist zwar wahrscheinlich, dass das Wachstum im dritten Quartal unter dem Einfluss der Belebung in China positiv ausfällt, einige Indikatoren haben sich jedoch verschlechtert und die globalen Wachstumsaussichten haben sich eingetrübt.

Die auf Erhebungsdaten beruhenden Indikatoren fallen besonders schlecht aus. Die Unternehmensbefragungen deuten in vielen Volkswirtschaften auf eine stagnierende Produktion hin (Figure 1, Teil A) und das Verbrauchervertrauen ist in den meisten fortgeschrittenen Volkswirtschaften auf ein bemerkenswert niedriges Niveau gesunken (Figure 1, Teil B). Der OECD-Frühindikator für die Volkswirtschaften im OECD-Raum liegt jetzt – abgesehen von einem kurzen Einbruch zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 – auf dem niedrigsten Niveau seit der weltweiten Finanzkrise. Da das Wachstum der Nominallöhne hinter der Inflation zurückbleibt, geht das reale verfügbare Einkommen der privaten Haushalte in vielen OECD-Ländern zurück, wodurch das Wachstum des privaten Konsums gebremst wird.

Die Finanzierungsbedingungen haben sich verschärft, weil die Zentralbanken immer entschlossener auf die über der Zielvorgabe liegende Inflation reagieren. Dadurch werden die marktbasierten Messgrößen der realen Zinssätze nach oben getrieben. Die Aktienkurse sind in diesem Jahr in vielen Teilen der Welt stark gefallen, die nominalen Anleiherenditen sind gestiegen, der US-Dollar hat deutlich aufgewertet und die Risikobereitschaft ist zurückgegangen. Die Zinsaufschläge auf Unternehmensanleihen sind gestiegen, insbesondere in Europa, und die Kapitalabflüsse aus den aufstrebenden Volkswirtschaften haben sich verstärkt. In den Vereinigten Staaten ist die Differenz zwischen der Rendite zehnjähriger und zweijähriger Staatsanleihen in den negativen Bereich gefallen – ein Phänomen, auf das in der Vergangenheit häufig ein Konjunkturabschwung folgte; die Renditestrukturkurven in einigen anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften, insbesondere im Vereinigten Königreich, zeigen eine ähnliche Entwicklung (Figure 2). Die höheren Zinssätze bremsen auch die Dynamik auf den Wohnimmobilienmärkten. Verkaufszahlen, Hypothekenkredite und Wohnungsbaubeginne gehen in vielen Ländern stark zurück und in einigen Ländern fallen die Preise im Monatsvergleich mittlerweile.

Die Lage am Arbeitsmarkt ist fast überall angespannt (Figure 3). Die Arbeitslosenquoten sind in vielen OECD-Ländern auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren, und das Verhältnis der Arbeitssuchenden zu den offenen Stellen verharrt auf einem historisch niedrigen Niveau. Das Beschäftigungswachstum hat sich in Nordamerika und Europa jedoch verlangsamt, die Zahl der freien Stellen sinkt in einigen Ländern und der Rückgang der Arbeitslosenquote scheint in einigen Ländern zu Ende zu gehen oder sich sogar umzukehren.

Die Energiepreise sind stark gestiegen, insbesondere bei Erdgas. Russlands kontinuierliche Verringerung der Gaslieferungen nach Europa in diesem Jahr zwingt die europäischen Volkswirtschaften, mehr Flüssigerdgas (LNG) auf den Spotmärkten zu kaufen, was die LNG-Preise nach oben treibt. Die Großhandelspreise für Gas sind in Europa drastisch gestiegen (Figure 4, Teil A) und da die Großhandelspreise für Strom in Europa an die Gaspreise gekoppelt sind (Grenzkosten der letzten benötigten Erzeugungsart), ist bei den Strompreisen ein ähnlicher Preisanstieg zu beobachten (Figure 4, Teil B). Die Kohlepreise haben ebenfalls nahezu ein Rekordniveau erreicht, da Stromerzeuger und einige Industriebranchen Gas durch Kohle und Öl ersetzt haben. Diese Phänomene sind in Europa am stärksten ausgeprägt, beeinflussen die Preise aber auch in anderen Regionen, insbesondere Asien.

Zum jetzigen Stand sind die Gaspreise in Europa mehr als dreimal so hoch wie vor einem Jahr und ungefähr zehnmal so hoch wie im Durchschnitt der Jahre 2010–2019. Illustrativen Berechnungen zufolge lässt diese Entwicklung zusammen mit dem im bisherigen Jahresverlauf verzeichneten Anstieg der durchschnittlichen Öl-, Kohle- und Strompreise darauf schließen, dass der Anteil der gesamtwirtschaftlichen Energieausgaben am BIP 2022 in vielen Ländern, insbesondere in Europa, erheblich gestiegen sein dürfte (Figure 5). Die Welt, insbesondere Europa, zahlt den Preis für den Krieg in der Ukraine und viele Volkswirtschaften stehen vor einem harten Winter.

In den meisten G20-Staaten lag die Inflation bereits vor Russlands Invasion in der Ukraine über der Zielvorgabe der Zentralbanken. Ursachen dafür waren der anfänglich starke Anstieg der Energiepreise nach der Aufhebung der Coronabeschränkungen sowie Engpässe in den Lieferketten, steigende Frachtkosten und die Verlagerung des privaten Konsums hin zu Waren. Die Nahrungsmittelpreise sind in vielen Ländern ebenfalls stark gestiegen. Der Krieg in der Ukraine hat diesen Preisdruck noch verstärkt. Befürchtungen einer Störung der Rohstofflieferungen aus Russland und der Ukraine haben dazu geführt, dass die Preise für Öl, Gas, Kohle und Industriemetalle sowie Weizen, Mais und Speiseöle im März 2022 stark anstiegen und in den darauffolgenden Monaten auf einem höheren Niveau schwankten. Die Energiepreise verharren auf einem hohen Niveau, die Einigung über die Wiederaufnahme einiger Agrarexporte aus der Ukraine hat jedoch geholfen, die Nahrungsmittelpreise wieder zu senken, und die schwächere Nachfrage aus China hat den Aufwärtsdruck bei den Metallpreisen verringert.

Zugleich breitet sich der Inflationsdruck auf weitere Bereiche aus, weil sich die höheren Energie-, Transport- und sonstigen Kosten zunehmend in den Preisen niederschlagen (Figure 6). Der Anstieg der Lohn- und Lohnstückkosten hat sich in vielen Ländern verstärkt, insbesondere in den Vereinigten Staaten, Kanada und dem Vereinigten Königreich. Dies führt zu Aufwärtsdruck auf einen breiten Fächer von Waren- und Dienstleistungspreisen. Es gibt noch keine eindeutigen Belege für eine Beschleunigung der Nominallöhne im Euroraum, was teilweise auf die relativ schwache automatische Lohnindexierung zurückzuführen ist. Angesichts der hohen Gesamtinflation und des angespannten Arbeitsmarkts wird das Lohnwachstum jedoch wahrscheinlich anziehen.

Das Weltwirtschaftswachstum wird den Projektionen zufolge in der zweiten Jahreshälfte 2022 gedämpft bleiben und 2023 weiter sinken. Dementsprechend wird im Jahresdurchschnitt mit einer Wachstumsrate von knapp unter 3 % für 2022 und 2¼ % für 2023 gerechnet (Figure 7). Den neuesten Projektionen zufolge dürfte die globale Wirtschaftsleistung 2023 nun um rd. 2,8 Billionen USD niedriger ausfallen (in KKP zu Preisen von 2015) als in den OECD-Projektionen vom Dezember 2021, d. h. vor dem Krieg in der Ukraine, angenommen wurde.

Ein wesentlicher wachstumshemmender Faktor ist die allgemeine Straffung der Geldpolitik, mit der gegenwärtig in den meisten führenden Volkswirtschaften auf die unerwartet starke Überschreitung der Inflationsziele in den letzten zwölf Monaten reagiert wird. Zudem hemmen die schrumpfenden verfügbaren Realeinkommen der privaten Haushalte, das niedrige Verbrauchervertrauen und die hohen Preise einiger Energieerzeugnisse, insbesondere die Erdgaspreise in Europa, sowohl den privaten Konsum als auch die Unternehmensinvestitionen.

In den meisten G20-Staaten dürfte sich das BIP-Wachstum sowohl 2022 als auch 2023 verlangsamen (Table 1). In den Vereinigten Staaten wird das Wachstum den Projektionen zufolge mit einer annualisierten Rate von rd. ½ % in der zweiten Jahreshälfte 2022 und im Jahresverlauf 2023 deutlich unter der Potenzialrate bleiben. In Europa dürften viele Volkswirtschaften in der zweiten Jahreshälfte 2022 und im ersten Quartal 2023 bestenfalls schwaches Wachstum verzeichnen, bevor sich im weiteren Jahresverlauf 2023 eine gewisse Verbesserung einstellt. Angesichts der negativen Auswirkungen der schrumpfenden Realeinkommen und der Störungen an den Energiemärkten ist in einigen dieser Volkswirtschaften, wie z. B. in Deutschland, Italien, im Vereinigten Königreich und im Euroraum insgesamt, kurzfristig eine sinkende Wirtschaftsleistung zu erwarten. In Japan, Korea und Australien ist die Wachstumsdynamik gegenwärtig etwas stärker als in Europa und den Vereinigten Staaten. Sie dürfte aber in den kommenden Quartalen, u. a. wegen der schwächeren Auslandsnachfrage, an Schwung verlieren.

In China dürften Politikmaßnahmen im Umfang von bis zu 2 % des BIP zur Stärkung der Infrastrukturinvestitionen sowie ein Nachholeffekt nach den pandemiebedingten Restriktionen in diesem Jahr dafür sorgen, dass das Wachstum 2023 wieder auf 4¾ % steigt, nachdem es 2022 mit 3,2 % ungewohnt niedrig ausfällt. In Indien wird u. a. wegen der schwächeren Auslandsnachfrage ein Rückgang der jährlichen Wachstumsrate von 8,7 % im Finanzjahr 2021/2022 auf rd. 7 % im Finanzjahr 2022/2023 und rd. 5¾ % im Finanzjahr 2023/2024 erwartet. Dies stellt jedoch in Anbetracht der schwachen Weltwirtschaftsentwicklung immer noch ein kräftiges Wachstum dar. Indonesien dürfte in der zweiten Hälfte des laufenden Jahres eine Abschwächung verzeichnen, da die höhere Inflation das Wachstum des privaten Konsums beeinträchtigt. Den Projektionen zufolge dürfte jedoch ein BIP-Wachstum von rd. 5 % im Jahr 2022 und 4¾ % 2023 erreicht werden. Das BIP-Wachstum in Saudi-Arabien hat von den hohen Energiepreisen profitiert. Zwar dürften sich die Wachstumsraten im Verlauf des Projektionszeitraums verringern, das jährliche Wachstum für 2022 bzw. 2023 könnte aber bei nahezu 10 % bzw. 6 % liegen. Für Argentinien, Brasilien, Mexiko und Südafrika, deren Wirtschaft relativ stark von der globalen Konjunkturentwicklung und der Nachfrage in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften abhängt, gehen die Projektionen für 2023 von einer Abschwächung auf jährliche Wachstumsraten zwischen ½ und 1½ % aus.

Vor dem Hintergrund der globalen Konjunkturwende, der nachlassenden Energiepreisinflation und der geldpolitischen Straffung der meisten führenden Zentralbanken, die zunehmend Wirkung zeigt, dürfte sich die Verbraucherpreisinflation allmählich verlangsamen. Basierend auf dem Energiepreisniveau in der ersten Septemberhälfte dürfte die Gesamtinflation im laufenden Quartal in den meisten führenden Volkswirtschaften ihren Höhepunkt erreichen und im vierten Quartal sowie im Jahresverlauf 2023 in den meisten G20-Ländern sinken (Table 2). Allerdings wird die jährliche Inflationsrate auch 2023 fast überall deutlich über den Zielwerten bleiben (Figure 8).

In den Vereinigten Staaten hat die Inflation nun möglicherweise ihren Scheitelpunkt erreicht. Zudem wurde dort früher als in den meisten anderen großen fortgeschrittenen Volkswirtschaften mit der Straffung der Geldpolitik begonnen. Dementsprechend dürfte es in den Vereinigten Staaten schneller gelingen, die Inflation wieder in den Zielbereich zurückzuführen als im Euroraum oder im Vereinigten Königreich. Die Kerninflation (gemessen am Deflator der privaten Konsumausgaben) in den Vereinigten Staaten wird sich den Projektionen zufolge 2023 im Durchschnitt auf rd. 3 % belaufen (Table 3) und zum Jahresende bei rd. 2¾ % liegen. In Japan hat sich der Inflationsdruck erhöht, ist jedoch im Vergleich zu anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften immer noch moderat. Die Kerninflation dürfte sowohl in diesem als auch im nächsten Jahr unter 2 % bleiben, und der jüngste deutliche Anstieg der Gesamtinflation dürfte allmählich abklingen. In weiten Teilen Europas hingegen werden den Projektionen zufolge sowohl die Gesamt- als auch die Kerninflation hoch bleiben, da sich die zuletzt drastisch gestiegenen Energiekosten nach und nach in der gesamten Volkswirtschaft niederschlagen und die geldpolitische Straffung später eingeleitet wurde als in den Vereinigten Staaten. Die Gesamtinflation im Euroraum wird voraussichtlich bei knapp über 9 % ihren Höchststand erreichen. 2023 dürfte sie im Durchschnitt bei 6¼ % liegen. Die Kerninflation im Euroraum wird gemäßigter bleiben. Sie dürfte Ende 2022 bei 4½ % ihren Höchststand erreichen und in der zweiten Jahreshälfte 2023 unter 4 % sinken. Eine ähnliche Entwicklung wird im Vereinigten Königreich erwartet. Dort dürfte die Gesamtinflation im späteren Jahresverlauf 2022 rd. 10 % betragen und danach allmählich zurückgehen. 2023 wird den Projektionen zufolge die Gesamtinflation im Jahresdurchschnitt bei knapp unter 6 % liegen; ohne Nahrungsmittel- und Energiepreise dürfte sich der Jahresdurchschnitt auf 6¾ % belaufen.

Die Inflationsaussichten für die führenden aufstrebenden Volkswirtschaften sind sehr unterschiedlich. In China ist die Inflation trotz des Aufwärtsdrucks durch die Nahrungsmittel- und Energiepreise weiterhin relativ niedrig und stabil. Die Gesamtinflation dürfte jedoch 2023 mit rd. 3 % etwas höher ausfallen als in der jüngeren Vergangenheit. In Indien und Indonesien, den anderen großen aufstrebenden Volkswirtschaften in Asien, liegt die Inflation aktuell über dem Zielwert der Zentralbanken. Die Projektionen gehen jedoch davon aus, dass sich die Inflation durch geldpolitische Straffung und eine schwächere globale Nachfrage bis Ende 2023 wieder ihrem Zielwert nähern dürfte. In den größten lateinamerikanischen Volkswirtschaften, Brasilien und Mexiko, haben die Zentralbanken die Zinsen bereits deutlich angehoben. Dies dürfte zusammen mit einer nachlassenden Energiepreisinflation die Gesamtinflation 2023 erheblich verringern. Argentinien und Türkiye verzeichnen bereits seit einiger Zeit einen sehr starken Preisauftrieb. Dies dürfte sich 2023 fortsetzen, wenngleich die durchschnittliche jährliche Gesamtinflation etwas niedriger ausfallen dürfte als 2022.

Die Wachstums- und Inflationsprojektionen stützen sich maßgeblich auf einige wichtige Annahmen, wie z. B. dass weitere Coronawellen ausbleiben, dass der Krieg in der Ukraine weder eskaliert noch sich ausweitet und dass es an den europäischen Energiemärkten allmählich zu einer Entspannung kommt.

Ein zentrales Risiko bei diesen Projektionen ist, dass die aktuellen und geplanten Verringerungen der russischen Energielieferungen an die EU zu deutlich größeren Verwerfungen führen als im Basisszenario unterstellt. Die Gas- und Strompreise sind bereits hoch und sie könnten weiter steil ansteigen, wenn es in Europa zu Engpässen kommt. Dies droht, wenn die ergänzenden Energieimporte der EU aus nichtrussischen Quellen niedriger ausfallen als erwartet oder wenn ein kalter Winter eine ungewöhnlich hohe Gasnachfrage mit sich bringt. Im laufenden Jahr wurden die Füllstände der Gasspeicher in der EU deutlich angehoben. In den meisten Mitgliedsländern liegen sie mittlerweile im Durchschnitt bei 80–90 %. Doch selbst diese Auslastung reicht in einem typischen Winter möglichweise nicht aus, um die Nachfrage auf dem europäischen Gasmarkt zu decken, ohne dass niedrige Füllstände die Ausspeicherungsleistung beeinträchtigen (Figure 9). Ein kalter Winter könnte den Gasmangel deutlich verschärfen, wenn es nicht gelingt, in naher Zukunft ergänzende Lieferungen zu beziehen, was unweigerlich eine deutliche Verteuerung nach sich ziehen würde.

Damit es möglichst nicht zu Gasmangellagen kommt, sind also ergänzende Lieferungen, eine Diversifizierung der Bezugsquellen und erhebliche Maßnahmen zur Senkung des Verbrauchs erforderlich. Diese Maßnahmen könnten viele Unternehmen und möglicherweise auch Privathaushalte schwer treffen. Eine Drosselung der Gasversorgung würde vor allem eine Reihe von Branchen des Verarbeitenden Gewerbes und insbesondere die Metallherstellung stark zu spüren bekommen, allerdings gibt es beim Ausmaß der drohenden Belastung innerhalb der europäischen Volkswirtschaften deutliche Unterschiede (Figure 10). Selbst wenn es den europäischen Ländern gelingt, in erheblichem Umfang ergänzende Lieferungen zu beziehen, entstehen globale Kosten: Der Aufwärtsdruck auf die Gaspreise in aller Welt würde zunehmen und die Versorgungslage anderer Länder würde sich verschlechtern.

Illustrative Simulationen unter Verwendung des globalen makroökonomischen Modells NiGEM veranschaulichen das mögliche Ausmaß des Wachstumsrückgangs und des Inflationsanstiegs im Fall von Gasmangellagen in den europäischen Volkswirtschaften. Dabei wird unterstellt, dass Engpässe die globalen Energiepreise nach oben treiben, das Vertrauen sowie das finanzielle Umfeld beeinträchtigen und hoheitliche Maßnahmen zur vorübergehenden Senkung des Gasverbrauchs der Unternehmen erforderlich machen.

  • In diesem Szenario steigen die Weltmarktpreise für Gas infolge des Drucks, der von der Nachfrage der europäischen Volkswirtschaften nach ergänzenden Gaslieferungen ausgeht, ab dem ersten Quartal 2023 um 50 %. Wegen der höheren Gaspreise orientieren sich auch die Düngemittelpreise nach oben; unterstellt wird eine Verteuerung um 25 %. Außerdem wird davon ausgegangen, dass die gestiegene Energienachfrage auch die Ölmärkte erfasst und einen Ölpreisanstieg um 10 % mit sich bringt. Es wird angenommen, dass diese Schocks frühestens nach einem Kalenderjahr wieder nachlassen.

  • Angesichts der gestiegenen Unsicherheit, die wahrscheinlich mit den Energieversorgungsstörungen einhergehen wird, ist in den EU-Volkswirtschaften und im Vereinigten Königreich mit weiteren Effekten zu rechnen, weil das Vertrauen schwindet und für Unternehmen die Finanzierungskosten steigen. Diese Effekte werden durch einen Ex-ante-Anstieg der Sparquote der privaten Haushalte um 1 Prozentpunkt sowie eine Erhöhung der Kapitalnutzungskosten um 1 Prozentpunkt modelliert.

  • Ferner wird unterstellt, dass von zeitlich befristeten hoheitlichen Maßnahmen zur Senkung des Gasverbrauchs der Unternehmen Anfang 2023 ein negativer Nachfrageschock ausgeht. Dies ist im Modell durch einen Rückgang des Produktionspotenzials in allen EU-Volkswirtschaften (und im Vereinigten Königreich) um 3 % im ersten Quartal 2023 dargestellt, der sich aus reduzierter technischer Effizienz in Kombination mit einer Verringerung der durchschnittlichen Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ergibt. Der Produktionsrückgang verhält sich proportional zur Abnahme der Gesamtenergieversorgung des Unternehmenssektors in der typischen Volkswirtschaft bei einer angeordneten Reduzierung des Gasverbrauchs um 10 %. Es wird unterstellt, dass dieser Schock im Laufe des Jahres 2023 allmählich nachlässt.

  • Angesichts der steigenden Inflation werden die Leitzinsen in diesem Szenario zunächst angehoben, bevor sie dann bei abflauendem Inflationsdruck wieder das Niveau des Basisszenarios erreichen. Die automatischen fiskalischen Stabilisatoren mildern die Folgen des Schocks etwas ab. Um die Effekte auf die Haushaltseinkommen umfassend abzufedern, wären jedoch zusätzliche diskretionäre Maßnahmen erforderlich.

Diese Schocks könnten das Wachstum der europäischen Volkswirtschaften 2023 gegenüber dem Basisszenario insgesamt um mehr als 1¼ Prozentpunkte absenken und eine Inflationssteigerung von mehr als 1½ Prozentpunkten verursachen (Figure 11). Damit würde vielen Ländern 2023 eine ganzjährige Rezession drohen. Auch 2024 würde das Wachstum noch geschwächt. Höhere Preise und weniger geleistete Arbeitsstunden würden die realen verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte weiter drücken und die Unternehmensinvestitionen würden ebenfalls stark beeinträchtigt. Außerhalb Europas hätten die Schocks geringere Auswirkungen, doch auch dort käme es durch die höhere Inflation und die schwächere Nachfrage aus Europa zu negativen Auswirkungen auf die Realeinkommen (außer in Gasförderländern). Auf globaler Ebene würde die Inflation 2023 um mehr als ½ Prozentpunkt steigen und das Wachstum würde um etwas weniger als ½ Prozentpunkt sinken.

Ein weiteres Risiko wäre, dass die westlichen Ölembargos gegen Russland zu größeren Verwerfungen führen als in den Basisprojektionen unterstellt. Auf dem Seeweg erhielt die EU aus Russland zuletzt rund 2 Mio. Barrel Rohöl und Raffinerieerzeugnisse pro Tag. Diese Lieferungen dürften ausbleiben, wenn das Ölembargo der EU in Kraft tritt. Sollten diese Lieferungen (beinahe 2 % der weltweiten Versorgung) den Weltmärkten vorübergehend entzogen werden, weil sie wegen Transportschwierigkeiten nicht auf alternativen Märkten angeboten werden, könnten die Weltmarktpreise einiger Produkte ein deutlich höheres Niveau erreichen als im Basisszenario unterstellt. Das anstehende EU-Versicherungsverbot für russische Öllieferungen an Nicht-EU-Länder erhöht das Risiko solcher Verwerfungen zusätzlich. Darüber hinaus könnte es diesen Winter bei bestimmten Treibstoffen, die bisher aus Russland kamen, zu Engpässen kommen, die beträchtliche wirtschaftliche Schwierigkeiten verursachen würden. In manchen Teilen Europas könnte dies beispielsweise bei Diesel der Fall sein. Durch diese Faktoren nimmt das Risiko zu, dass die Kosten des Kriegs für die Weltwirtschaft noch höher ausfallen als im Basisszenario unterstellt. Wenn z. B. die Ölpreissteigerung ein Jahr lang 20 % höher liegt als angenommen – mit einem besonders drastischen Anstieg Anfang 2023, der danach wieder abklingt –, könnte dies die Verbraucherpreisinflation 2023 um weitere 0,6 Prozentpunkte nach oben treiben und das Weltwirtschaftswachstum noch einmal um 0,1–0,2 Prozentpunkte drücken.

Weitere wesentliche Risiken ergeben sich aus der ungewissen Entwicklung der Nahrungsmittelpreise sowie der hohen Verschuldung und der Schwäche des Immobiliensektors in China.

  • Die bisherigen Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine sowie eine Reihe von extremen Wetterlagen in diesem Jahr haben die Schockanfälligkeit einiger Nahrungsmittelmärkte erhöht. Die diesjährige starke Verteuerung von Düngemitteln könnte nächstes Jahr insbesondere in Schwellen- und Entwicklungsländern die Ernteerträge und Ernährungssicherheit beeinträchtigen. Extremwetterereignisse werden aufgrund des Klimawandels immer häufiger und heftiger, in Europa und China kommt es zu Dürren. Vor diesem Hintergrund besteht ein klares Risiko weiterer Preisspitzen auf den Nahrungsmittelmärkten. Dadurch würde der Aufwärtsdruck auf die Inflation steigen, und Armut und Hunger würden zunehmen.

  • China muss wegen seiner anhaltenden Immobilienmarktkrise und der zugleich hohen Unternehmensverschuldung große Herausforderungen bewältigen. Ist es dabei erfolgreich, kann ein solides Wirtschaftswachstum zurückkehren, wie für Ende 2022 und 2023 prognostiziert. Nach wie vor besteht allerdings das Risiko eines längeren Abschwungs aufgrund einer deutlich schwächeren Binnennachfrage des privaten Sektors. Dies würde das Wachstum auf globaler Ebene spürbar beeinträchtigen, aber auch die Preise für Energie und sonstige Rohstoffe drücken.

Erhöhte Unsicherheit, ein sich verlangsamendes Wachstum, starker Inflationsdruck und die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf die Energiemärkte stellen die Politikverantwortlichen vor schwere Entscheidungen. Um die Inflation dauerhaft zu senken, muss die Geldpolitik weiter gestrafft werden. Da ungewiss ist, wie sich das Wachstum entwickeln wird, wie rasch die höheren Zinsen Wirkung zeigen und welche Spillover-Effekte von der Straffung in anderen Ländern ausgehen, müssen die auf nationaler Ebene ergriffenen Maßnahmen sorgsam austariert werden. Es ist richtig, den unmittelbaren Effekt höherer Nahrungsmittel- und Energiekosten auf die Verbraucher*innen und Unternehmen durch befristete fiskalische Maßnahmen abzufedern. Dabei darf jedoch nicht aus den Augen verloren werden, dass es zugleich gilt, den Energieverbrauch zu senken, zusätzliche Nachfrageimpulse angesichts der aktuell hohen Inflation zu begrenzen und die Tragfähigkeit der Verschuldung zu sichern. Wichtig ist zudem, bei allen Anstrengungen zur Erhöhung der Energieversorgungssicherheit nicht zu vergessen, dass der ökologische Wandel dringend beschleunigt werden muss. Wirkungsvolle und zielgenaue Reformanstrengungen sind nötig, um die Produktivität zu steigern, die Ungleichheit zu verringern, die Krisenfestigkeit zu erhöhen und den Lebensstandard anzuheben. Gut gewählte Maßnahmen, z. B. mehr Förderung für die Kinderbetreuung und eine geringere Steuer- und Abgabenbelastung für Geringverdienende, könnten den Druck mindern, dem sich einkommensschwache Haushalte ausgesetzt sehen, und auf mittlere Sicht die Beschäftigungsaussichten und die Teilhabe verbessern.

Die meisten großen Zentralbanken haben die Zinsen in den letzten Monaten drastisch angehoben. Die Politikentscheidungen wurden dabei zunehmend von aktuellen Entwicklungen bestimmt. In vielen Ländern, insbesondere den Vereinigten Staaten, wird das finanzielle Umfeld auch infolge der Verringerung der Bilanzsummen der Zentralbanken restriktiver. Angesichts des sich auf die gesamte Wirtschaft ausweitenden Preisdrucks wurden die Leitzinsen stärker angehoben als zuvor in der Forward Guidance angekündigt, um soweit möglich zu verhindern, dass die hohe Inflation sich in den Inflationserwartungen verfestigt und auf den Arbeitsmärkten, die im historischen Vergleich ungewöhnlich angespannt sind, den Lohnauftrieb erhöht. Wäre mit diesen Zinserhöhungen länger gewartet worden, hätten später womöglich noch drastischere Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Inflation zu senken. In vielen Ländern, in denen erhebliche bilaterale Währungsabwertungen gegenüber dem US-Dollar in den letzten Monaten den Preisdruck steigen ließen, wird zudem das Zinsgefälle gegenüber den Vereinigten Staaten zu einem wichtigen Punkt.

In den meisten großen fortgeschrittenen Volkswirtschaften sind weitere Zinserhöhungen nötig, damit die Vorausindikatoren der realen Zinssätze wieder ein positives Vorzeichen erhalten und der Inflationsdruck dauerhaft eingedämmt wird. Dies wird wohl mit einem zeitweise unter der Trendrate liegenden Wachstum einhergehen, was helfen dürfte, den Druck auf die Ressourcen zu verringern. In den Projektionen wird für 2023 von einem Anstieg der Leitzinsen auf 4½–4¾ % in den Vereinigten Staaten, auf 4½ % in Kanada und auf 4¼ % im Vereinigten Königreich ausgegangen, bedingt durch die sichtlich angespannte Arbeitsmarktlage in diesen Ländern; für Australien wird mit einer Anhebung auf 3,6 % gerechnet (Figure 12). Die EZB sieht sich aufgrund der sehr unsicheren Aussichten im Euroraum und des gleichzeitig zunehmenden Inflationsdrucks einem besonders schwierigen Umfeld gegenüber. Für 2023 wird erwartet, dass der Hauptrefinanzierungssatz auf 4 % steigt. Bei der Wiederanlage der Erlöse aus fällig werdenden Anleihen in der Bilanz der EZB dürften sämtliche Flexibilitätsspielräume genutzt werden, um die finanzielle Fragmentierung im Euroraum zu begrenzen. In Japan ist die Inflation in der Tendenz immer noch verhalten. Daher wird damit gerechnet, dass die japanische Zentralbank ihren gegenwärtigen Kurs, der auf die Renditekurvensteuerung ausgerichtet ist, beibehält und die Leitzinsen nicht ändert.

Weltweit restriktivere Finanzierungsbedingungen und anhaltender Inflationsdruck dürften auch in vielen großen aufstrebenden Volkswirtschaften eine weitere Straffung der Geldpolitik erforderlich machen; in Ländern, in denen sich das Wachstum abschwächt und die Zinsen bereits deutlich angehoben wurden, verringern diese Faktoren den Spielraum für eine Lockerung. Die Preise für Nahrungsmittel, Düngemittel und Energie sind alle gestiegen. Sie haben großes Gewicht in den nationalen Inflationsmaßen und auch erhebliche Auswirkungen auf die Inflationserwartungen. In China wurden die Mindestreservesätze und die Referenzzinssätze jüngst gesenkt, um der Wachstumsverlangsamung entgegenzuwirken; es wird jedoch nur mit einer geringen weiteren geldpolitischen Lockerung gerechnet.

Bei der Straffung der Geldpolitik das richtige Maß zu finden, ist derzeit besonders schwierig, weil die weiteren Aussichten unsicher sind und nicht klar ist, wie sich die verschiedenen Kanäle, über die sich höhere Zinsen auf die Wirtschaft auswirken, zueinander verhalten und welche Spillover-Effekte von der Straffung in anderen Ländern ausgehen könnten. In vielen Ländern ist es zwei Jahrzehnte her, dass die Leitzinsen zuletzt über einen längeren Zeitraum hinweg angehoben wurden. Höhere Schuldenstände, gestiegene Vermögenspreise, Veränderungen der Flexibilität der Produkt- und Arbeitsmärkte, Finanzinnovationen, die zunehmende Bedeutung der Kreditvergabe durch Nichtbanken sowie die stärkere Öffnung des Handels und der Finanzmärkte könnten zur Folge haben, dass Leitzinsänderungen heute schneller Wirkung zeigen als damals, zumal die Zinsen aktuell fast überall in der Welt erhöht werden. Die Entwicklung muss deshalb genau beobachtet werden, um zu verhindern, dass die Zinsen zu stark oder länger als zur Senkung der Inflation nötig angehoben werden.

Der Krieg in der Ukraine und stark steigende Energiepreise führen dazu, dass die kurzfristigen Haushaltsziele korrigiert werden – trotz der während der Pandemie gewachsenen Verschuldung, der steigenden Anleiherenditen und des längerfristigen Ausgabendrucks. In fast allen Ländern wurden neue fiskalische Maßnahmen ergriffen, um private Haushalte und Unternehmen vor dem Anstieg der Energie- und Nahrungsmittelpreise zu schützen. Einige große europäische Länder haben bereits mehrere Entlastungspakete im Gesamtumfang von 2 % des BIP, teilweise sogar mehr, verabschiedet. Diese Maßnahmen dürften mindestens bis weit in das Jahr 2023 hinein fortgesetzt werden. In Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich wurden bereits zusätzliche Entlastungsmaßnahmen für nächstes Jahr angekündigt; für Italien, Japan und Spanien wird in den Projektionen unterstellt, dass die aktuellen Maßnahmen verlängert werden. Der Gesamteffekt dieser Maßnahmen auf die Verschuldung ist unsicher. Über Erwarten hohe Steuermehreinnahmen aufgrund der steigenden Inflation sowie in einigen Ländern erhobene Übergewinnsteuern auf die außergewöhnlichen Gewinne einiger Energieerzeuger und -‍lieferanten könnten die Mehrkosten für die öffentlichen Haushalte teilweise ausgleichen. Auf EU-Ebene wurde vorgeschlagen, die Preise, die an Erzeuger von Strom aus günstigeren Quellen wie Erneuerbaren und Kernenergie gezahlt werden, zu deckeln und dies eventuell mit einer Sondersteuer auf die übermäßigen Gewinne von Produzenten fossiler Brennstoffe zu kombinieren. Auf diese Weise könnten Länder, die solche Steuern aktuell nicht erheben, zusätzliche Mittel erhalten, in den Projektionen sind diese Vorschläge aber nicht berücksichtigt. In den Vereinigten Staaten wird die fiskalische Straffung voraussichtlich bis ins Jahr 2023 andauern.

Bei kurzfristigen Maßnahmen zur Absicherung des Lebensstandards gilt es angesichts der aktuell hohen Inflation darauf zu achten, dass ein weiterer anhaltender Impuls vermieden wird. Andernfalls müsste die Geldpolitik länger restriktiv ausgerichtet bleiben und die Schuldendienstkosten würden steigen. Außerdem darf die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen nicht gefährdet werden. Glaubwürdige Haushaltsrahmen würden klare Orientierungen geben, in welche Richtung sich die öffentlichen Finanzen mittelfristig entwickeln, und die Besorgnis über die Tragfähigkeit der Verschuldung verringern. Eine sorgfältige Neubeurteilung der Zusammensetzung der öffentlichen Ausgaben und der Steuern würde zudem helfen, Investitionen in Infrastruktur und Energieversorgungssicherheit zu sichern, während die Haushaltspuffer wiederaufgebaut werden.

Fiskalpolitische Maßnahmen zur Abfederung des Effekts der hohen Energiepreise sollten idealerweise gezielt den Schwächsten zugutekommen, nicht länger bestehen bleiben als der außergewöhnliche Preisdruck und die Anreize zur Verringerung des Energieverbrauchs nicht beeinträchtigen. Zusätzliche bedürftigkeitsabhängige Transferleistungen für private Haushalte während der Dauer der Hochpreisphase erfüllen im Allgemeinen diese Kriterien. Sie sind jedoch verwaltungstechnisch komplex und greifen möglicherweise nicht so schnell wie weniger gezielte Maßnahmen zur Deckelung der Energiepreise oder Senkung indirekter Energiesteuern. Diese breiteren Maßnahmen dämpfen außerdem den kurzfristigen Inflationsdruck. Sie verursachen allerdings in der Regel höhere Haushaltskosten (Figure 13). In Europa hat sich der Akzent infolge des außergewöhnlichen Gas- und Strompreisanstiegs, der seit Mitte 2022 verzeichnet wird, einstweilen stärker in Richtung allgemeinerer – aber kostspieligerer – Entlastungsmaßnahmen mit Preisdeckeln für Verbraucher*innen und Unternehmen, insbesondere KMU, verschoben. Diese verschiedenen Maßnahmen müssen umsichtig konzipiert werden, um sicherzustellen, dass sich die Verbraucher*innen und Unternehmen klar wahrnehmbar mit höheren relativen Energiepreisen konfrontiert sehen, und um zu vermeiden, dass sie Reallokationsprozesse behindern, indem sie auf mittlere Sicht nicht tragfähige energieintensive Aktivitäten schützen. Zudem müssen sich die Regierungen des Risikos bewusst sein, dass die Energiekrise noch mehrere Jahre dauern könnte.

Ein langsames Weltwirtschaftswachstum, steigende Schuldenstände, höhere Zinsen und ein starker US-Dollar begrenzen in vielen aufstrebenden Volkswirtschaften den fiskalpolitischen Handlungsspielraum. Dies gilt besonders für Länder mit einer hohen auf Fremdwährung lautenden Verschuldung oder Haushaltsdefiziten, die deutlich über dem Niveau der Zeit vor der Pandemie liegen. Rohstoffexportierende Länder haben gewissen Spielraum, ihre Mehreinnahmen zu nutzen, um besonders schwache Bevölkerungsteile zu unterstützen; viele von ihnen müssen aber auch weiter Maßnahmen ergreifen, um die öffentlichen Finanzen zu sanieren. Eine wachsende Zahl einkommensschwacher Entwicklungsländer befindet sich bereits in einer Schuldenkrise, in einigen kam es schon zum Zahlungsausfall und aufgrund von Ansteckungseffekten könnten auch Volkswirtschaften mit relativ niedriger Verschuldung zunehmend unter Druck geraten. Um die negativen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen möglicher Zahlungsausfälle gering zu halten, bedarf es einer stärkeren internationalen Zusammenarbeit im Bereich der Schuldenerleichterungen, u. a. im Rahmen der G20.

Russlands Invasion in der Ukraine hat den Zusammenhang zwischen Energie- und Sicherheitspolitik deutlicher ins Bewusstsein gerufen, da viele OECD-Länder immer noch stark von fossilen Brennstoffen aus Russland abhängig sind. Insbesondere in Europa kann es einen Zielkonflikt geben zwischen der unmittelbaren Notwendigkeit einer Anpassung an den von Russland geschaffenen Gasversorgungsengpass und dem Erfordernis, den ökologischen Wandel zu beschleunigen, um bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen. Die starken Gaspreisschwankungen in Europa haben z. B. teilweise zu einer Umstellung von Gas auf Kohle bzw. von Gas auf Öl geführt, was zwar auf kurze Sicht gut ist für die Energieversorgung, im Hinblick auf die Klimaneutralität jedoch schlecht. Die Politik muss sicherstellen, dass die Ziele der Energieversorgungssicherheit und des Klimaschutzes miteinander in Einklang stehen. Ein schnellerer Ausstieg aus fossilen Brennstoffen ist die beste Antwort auf den Rückgang der Energielieferungen aus Russland.

Die Dynamik, die durch Initiativen wie REPowerEU in der Europäischen Union und das Inflationssenkungsgesetz in den Vereinigten Staaten geschaffen wurde, sollte genutzt werden, um eine Palette von Maßnahmen umzusetzen, die sowohl die Energieversorgungssicherheit als auch den ökologischen Wandel fördern. Dazu sind verschiedene Politikinstrumente erforderlich – Preisinstrumente, Vorschriften und öffentliche Investitionen –, welches Gewicht diesen Maßnahmen jeweils zukommen muss, ist von Land zu Land unterschiedlich und hängt von der Ausgangssituation ab. IEA-Schätzungen zufolge müssen sich die weltweiten Investitionen in saubere Energien und Energieinfrastruktur bis 2030 mehr als verdreifachen, damit gesichert ist, dass wir glaubhaft auf Kurs sind, um bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen. Dazu müssen wahrscheinlich langfristige CO2-Preispfade vorgegeben werden, um diese Investitionen rentabler zu machen. Daher ist ein klarer politischer Rahmen nötig, der Preissignale mit regulatorischen und fiskalischen Instrumenten kombiniert.

Sowohl für die Energieversorgungssicherheit auf kurze Sicht als auch für ein wirkungsvolles Herangehen an den Klimawandel ist eine engere internationale Zusammenarbeit erforderlich. In Europa bedarf es dringend mehr Koordination bei der Diversifizierung der Versorgung und der Verringerung des Energieverbrauchs; äußerst wichtig ist auch, den Gas- und Elektrizitätsverbund zu verbessern und die Solidarität zwischen den EU-Mitgliedern zu stärken, um zu vermeiden, dass es in den Ländern, die am stärksten von den Störungen der Energieimporte aus Russland betroffen sind, diesen Winter zu Energienot kommt. Generell würde mehr grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Klimapolitik, auch in Bezug auf CO2-Preise, dabei helfen, Carbon-Leakage zu verhindern, die Kosten von Emissionsminderungen zu senken und weltweit den Zugang zu emissionsarmen Technologien zu verbessern.

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Originaltitel: OECD (2022), OECD Economic Outlook, Interim Report September 2022: Paying the Price of War, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/ae8c39ec-en.

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